Nachdem wir zum ersten Mal in Blumis Probenraum unsere Sachen ausgepackt und aufgebaut haben, kam er dazu, sah sich um und fragte: „Spielt Ihr denn nicht nach Noten?“ Ich war von der Frage sehr erstaunt, zum einen, weil das Abwesendsein von Spielvorlagen für mich (und uns als Gruppe) mittlerweile zur Normalität geworden ist, zum anderen, weil sie für einen Außenstehenden so naheliegend ist und einen wichtigen Aspekt berührt, der mit dem Thema des letzten Teil zu tun hat: Was ist eigentlich ‚frei‘?
Ich hatte mir eigentlich seit der zweiten Probe mit dem Heckquarter (damals noch mit Schlagzeug) keine Sorgen mehr gemacht, wie wir die Probenzeit musikalisch ausfüllen. Man spielt einfach das, was einem durch den Kopf oder durch die Finger geht, so könnte man es vereinfacht sagen. Aber natürlich ist es viel komplexer:
„Free Form Jazz“ – das wäre wohl die genaueste Bezeichnung für das was wir momentan machen, die Frage der Stilistik wäre ein eigenes Thema – zeichnet sich dadurch aus, dass es (größtenteils) keine formalen Absprachen gibt und dass jeder Musiker seine eigene Sprache in das Zusammenspiel miteinbringt. Was wiederum bedeutet, dass jeder Musiker etwas zum Einbringen im Moment des Zusammenspiels dabei haben sollte, er sollte also ein paar Licks und Tricks draufhaben, im besten Falle schon ein ganzes ‚Vokabular‘ an musikalischen Formeln, das er frei und situativ einsetzen kann. Das setzt eine gewisse Reflexion über das eigene Spiel und Souveranität im Umgang mit seinem Instrument voraus. Letzterer Aspekt, der Anspruch auf instrumentale Expertise und das Zeigen der Virtuosität ist aber ein Jazz-Ding, das muss nicht bei allen improvisierten Musiken (wie Noise, Free Punk usw.) gleich stark sein.
Das Improvisieren über eine musikalische Vorlage, wie es im Jazz normalerweise gemacht wird, wird erweitert durch das Improvisieren mit dem eigenen Umgang mit dem Instrument, mit der eigenen musikalischen Sozialisation, mit dem Rollenverständnis als instrumentaler Spezialist in einer Gruppensituation – Was darf und will ich als Bassist, als Saxofonist, als Gitarrist in dieser Gruppe spielen? – und geht sicher in solch esoterische und/grundsätzliche Bereiche wie die eigene generelle Körperwahrnehmung und physikalisch-akustische Eigenschaften des Instruments. In der Anfangszeit des Hecks entwickelte sich die Musik unabgesprochen in eine Multistilistik, d.h. wir haben recht viel verschiedene musikalische Stile mit- und nacheinander verarbeitet. Das musikalische Ergebnis klang dann teilweise wie eine atonale Blues-, Jazz-, oder Funk-Jam-Session, manches auch wie französische Spektralmusik. Mit der aktuellen Besetzung zwei Saxe, Bass und Gitarre sind wir nun viel kammermusikalischer, da kann’s auch mal nach Normaler Neuer Musik (wie Dieter Schnebel es mal so schön formuliert hat) klingen.
Das Zurückfallen auf seine eigene musikalische Sozialisation und das eigene Ungenügen kann dabei manchmal frustrierend sein, ebenso ist die Frustration, wenn es mal im Zusammenspiel nicht klappt, viel größer, als wenn man was aus dem Realbook runternudelt. Denn es ist beim Nichtgelingen sofort alles in Frage gestellt: Man kann die Improvisationsvorlage nicht beschuldigen, denn die gibt es ja nicht. Das schlechte Timing eines Einzelnen kann man ebenso nicht bemängeln, denn wer braucht in einer freien Spielsituation jetzt unbedingt eine tighte Time a la Mowtown, man könnte ja auch was Flächiges a la Radiohead spielen. Über die tagesabhängige schlechte Geläufigkeit am Instrument allein kann man auch nicht lamentieren, denn wer verlangt im Zusammenspiel nun Licks a la Charlie Parker oder Joe Satriani. All das kann dazu beitragen, die generelle Grübelei nach dem Sinn seines Tun zu befördern.
Dazu kommt das eigene Gegniedel und Gedudel, also das, was man zuhause so produziert und mit in die Proben bringt. Beim Zuhause-Alleine-Rumdudelnden – das was andere Musiker wohl als Üben bezeichnen würden – ist es wichtig, den Fokus zu weiten und immer nach möglichen Anknüpfungspunkten für die anderen Musiker zu schauen und zwischen eigenem Vermögen und Vorlieben und denen der anderen zu unterscheiden. Und immer wieder gilt es beim eigenen Instrumentalspielen und -üben den inneren Schweinehund zu überwinden und auch mal Sachen zu spielen, die nicht so leicht auf dem Instrument liegen. Ich nutze das auf der Gitarre als Antriebsmoment und spiele teilweise extreme Übergiffe und Pickings, einfach um mal wieder die (nicht sehr weitgesteckten) Grenzen des eigenen Spiels auszuloten. (Manchmal frage ich mich, ob und wie unsere beiden Saxe das machen. Eine halbe Stunde atonale Multiphonics treiben jeden Nachbarn zum Wahnsinn…)
Vielleicht beantwortet das teilweise schon die Frage, was man eigentlich spielt, wenn man frei improvisiert. Im Moment des freien Improvisierens eigentlich alles, was einem durch die Finger läuft, nur sollte das vorher sorgfältig überprüft und ausgesucht sein.
Beim nächsten Mal ein paar Gedanken über das Formproblem. Das wird nicht so theoretisch, wie es klingt: Wir müssen demnächst nämlich ein Set zusammenstellen ;-)